„Josi steht auf mich. Bleib cool, Mann.“
„Wen hat se abblitzen lassen, du Clown?“
„Willste mich abflocken?“
Sie schubsten sich, diskutierten, in wen von ihnen „Josi“ mehr verliebt war, so verstand ich die Unterhaltung. Ich hoffte, dass sie an der nächsten Station wieder ausstiegen.
Bald roch es nach Alkohol; aus einer umgekippten Flasche auf dem Boden lief Schnaps aus. Ich sah auf meine Sandalen, wie sich durch die Schnalle die Löcher am Riemen unterschiedlich geweitet hatten.
„Warum muss immer dein kleiner Bruder an dir kleben wie ein Köter? Der nervt“, schrie einer der Jugendlichen einen anderen an. „Verpiss dich, Tobi. Wir sind kein Babysitterunternehmen. Oder trink was, Tobi. Hier.“
„Nein!“
„Sch“, hörte ich die Frau leise zischen, die mir gegenübersaß. Ihre weißen Turnschuhe waren ergraut, der Stoff abgestoßen. Mein Blick wanderte ihre löchrige Jeans entlang aufwärts bis zu dem Tragetuch, das sie sich umgebunden hatte, weiter zu dem Babykopf, der unter einer großen Stoffmütze nur zu erahnen war. Das Baby war so klein, dass es mehr wie eine Puppe schien.
„Wie alt ist es?“, fragte ich.
„Acht Wochen.“ Sie drehte sich um. Auch ich sah ans Ende des Abteils und schnell wieder weg. Es waren fünf Jugendliche. Einer von ihnen war kleiner, jünger als die anderen. Zwölf Jahre? Höchstens, schätzte ich.
Ich hörte einen Knall, spürte einen Luftzug. Die Frau mir gegenüber legte ihre Jacke über den Säugling.
Ein Mann stand auf und verließ das Abteil.
„Tobi braucht frische Luft!“, schrie einer der Betrunkenen. Die anderen stimmten ein. Es erinnerte mich an das Anfeuern in einem Fußballstadion. „Tobi braucht frische Luft“, grölten drei im Chor, einer schweig, der Kleine versuchte, sich aus dem Griff von dem langen Blonden zu winden. Vergeblich.
Ich fror, rieb über meine Unterarme.
Die Frau mit dem Säugling richtete sich auf. Ihre Augen waren blau. Ich drehte mich wieder zu den Jugendlichen. Der lange Blonde mit dem schwarzen Parka hob den Kleinen hoch, dann mit dem Oberkörper aus dem Fenster.
„Nein, nicht. Nein. Hilfe!“, schrie der Kleine.
Ich dachte an eine Deutscharbeit, die wir in der zehnten Klasse schreiben sollten, eine Textinterpretation über die Geschichte „Im Tunnel“ von Franz Kafka. Am Anfang sollten wir den Text in einem Satz zusammenfassen. Mir fiel damals kein Satz ein. Nachdem ich eine Schulstunde über den ersten Satz nachgedacht hatte, wollte ich direkt mit der Analyse beginnen.
„Figurenkonstellation“, sagte ich, „Ort, Zeit, Sachebene.“
„Bitte?“, fragte die Frau mit dem Tragetuch.
„Haben Sie ein Handy?“
„Tobi hat Schiss!“, lachte einer.
Ich schätzte sein Alter auf sechzig oder siebzig, versuchte, seine Kraft in Relation zu meiner zu setzten. Aber unabhängig vom Alter: Er war ein Mann. Ich war eine Frau. Warum sollte ich etwas tun, wenn er es nicht tat? Andererseits musste irgendetwas geschehen.
„Ich gehe da jetzt hin“, sagte die Frau mit dem Tragetuch.
„Nein. Nicht.“
„Dann gehen Sie.“
„Warum nicht der Mann da drüben?“, fragte ich. „Das Baby. Das ist zu gefährlich.“
Der kleine Junge zappelte mit den Beinen. Sein Oberkörper hing aus dem Fenster. Er schrie. Ich hatte Angst, dass irgendein Mast käme, dass der lange Blonde die strampelnden Beine nicht mehr halten könnte, dass der Kleine aus dem Zug ... nicht auszudenken.
„Tobi, zeig, dass de Mut has‘!“, grölte einer.
„Tobi, halt‘s Maul.“
Die Frau mit dem Tragetuch stand auf. Ich dachte wieder an die Geschichte von Kafka, konnte jedes Wort der Textanalyse vor mir sehen, das ich damals geschrieben hatte.
„Helfen Sie mir“, sagte die Frau mit dem Tragetuch.
„Was soll ich denn tun?“
„Irgendwas.“
Ich stand auf und sah, wie die Frau zu den Jugendlichen ging und aus ihrer Hosentasche ihr Portemonnaie zog. „Danke, Tobi, dass du mir letzte Woche das Geld geliehen hast.“
„Is‘ was, Alte?“
Ich faltete die Hände, wollte beten. Dachte daran, dass ich seit Jahren nicht in der Kirche gewesen war, nur einmal an Weihnachten. Wie sollte ich Gott ansprechen. Lieber Gott? Das klingt kindisch. Trotzdem dachte ich: „Lieber Gott“, weil mir nichts anderes einfiel. „Lieber Gott. Lieber Gott. Lieber Gott.“ Ich wusste, dass ich es war, die aufstehen müsste.
„Sch“, zischte die Frau und das Baby war wieder still. Sie wiegte ihren Oberkörper langsam hin und her.
„Lieber Gott“, sagte ich laut.
„Ich will Tobi das Geld wiedergeben. Aber dafür müssen Sie ihn reinziehen.“
„Gib‘s mir, Alte.“
„Nein. Tobi hat es mir geliehen, deshalb gebe ich es auch Tobi zurück.“
Der lange Blonde mit dem schwarzen Parka zog den Kleinen ins Abteil, setzte ihn auf die Bank.
Der Kleine öffnete den Mund wie ein Fisch, der aus dem Wasser gezogen wurde. Nur das gleichmäßige Rattern des Zuges über die Gleise war zu hören.
„Hast du vergessen, dass du mir das Geld geliehen hast? Leider kann ich dir heute nicht die ganzen zehn Euro zurückgeben. Habe nur acht dabei. Kannst nachgucken, wenn du willst. Hier. Das ist alles, was ich habe.“ Die Frau zähle Münzen zusammen, schüttelte ihr Geldfach, als sei sie sich doch nicht sicher, ob sich irgendwo noch ein Centstück verbarg.
Der Kleine streckte seine Hand aus, ganz langsam. Die Frau mit dem Tragetuch legte das Geld auf die Handinnenfläche.
„Aber lass es nicht fallen“, sagte sie.
„Gib‘s mir.“ Der mit dem 3-Millimeter-Schnitt nahm dem Kleinen das Geld aus der Hand.
„Aber dann brauche ich eine Unterschrift von dir, Tobi, nicht, dass du wie beim letzten Mal sagst, du hast es nicht bekommen. Und dann morgen kommst und das Geld noch einmal haben willst.“ Die Frau stand ganz still. Der Zug schwankte in der Kurve, die Waggons verschoben sich seitlich. Der Schaffner war für einen Moment nicht mehr zu sehen. Die Frau mit dem Tragetuch wankte nicht, obwohl sie sich nicht festhielt.
„Was ist jetzt, Tobi? Komm mit und unterschreib.“ Sie packte den Kleinen am Arm und zog ihn hinter sich her, zügig raus aus dem Abteil. Niemand hielt sie auf. Beide verschwanden im Gang. Das rote Besetztzeichen der Toilette leuchtete auf.
Ich sah aus dem Fenster. Einer der Jugendlichen, der mit der Brille, drehte sich noch einmal um, schrie „Tobi“, dann zog ihn der lange Blonde mit in die Unterführung.
Ein Pfiff ertönte. Die Türen schlossen sich. Der Zug fuhr an. Ich stand auf und wankte zur Zugtoilette, klopfte erst zaghaft, anschließend fester gegen die Tür.
„Sie sind weg“, rief ich.
Die Verriegelung klackte. Die Tür ging auf.
„Danke“, flüsterte ich. „Eigentlich hätte ich ...“
„Ist ja noch mal gut gegangen.“
Die Frau mit dem Tragetuch streichelte mit der einen Hand über den Kopf ihres Babys, mit der anderen die Haare des Jungen. Er hätte tot sein können, dachte ich immer wieder.
„Glauben Sie an Gott?“, fragte ich.
Ihre Augen sagten ja. „Warum meinen Sie? Du musst mich kurz loslassen, Tobi“ die Frau, „sonst kommen wir nicht durch die Tür.“
„Woher haben Sie gewusst, wie Sie die Situation retten können?“
„Ich habe es nicht gewusst.“
Er umklammerte ihre Hüfte. Sie löste seinen Griff, zog den Jungen zu der nächsten Sitzgruppe. Er sank auf die Polster und schluchzte.
„Ihre Fahrkarten bitte!“
„Hatten Sie keine Angst, dass die Ihnen etwas tun?“, erkundigte ich mich.
„Darum geht es doch gar nicht.“ Dann wendete sie sich zum Schaffner. „Sie müssen die Polizei rufen.“ Sie berichtete in vier Sätzen, was geschehen war.
„Nein!“, schrie der Junge. „Dann wird mein Bruder auch bestraft.“
„In Ordnung, aber ich bringe dich nach Hause und rede mit deinen Eltern“, erklärte die Frau.
„Das ist sinnlos“, meinte der Junge.
„Ich komme mit“, sagte ich.
Wir sahen uns an, sie und ich.
„Sie müssen das nicht tun.“ Die Frau mit dem Tragetuch reichte dem Jungen einen Kaugummi.
„Ich würde wirklich gerne mitkommen. Obwohl ich nicht weiß, wie genau ich helfen kann oder was ich sagen soll.“
Vier Stationen weiter stiegen wir zu dritt aus, die Frau mit dem Tragetuch, der Junge und ich.
Nun drückte ich neben der Frau mit dem Tragetuch eine angelehnte Haustür eines alten Mehrfamilienhauses auf. Im Flur roch es nach Feuchtigkeit und Keller, als hätte seit Jahrzehnten niemand mehr diesen Ort betreten.
„Hier wohne ich“, sagte Tobi und zeigte auf die mittlere Tür im ersten Stock.
Ich ging die Treppe hoch und klingelte.
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